„Jedem das Seine“ – die perfide Inschrift am Schlüpftor des Konzentrationslagers Buchenwald lässt nicht gleich an die Kunstschule denken, die Walter Gropius 1919 im nahen Weimar gründete. Doch die sorgfältig proportionierten, weich abgerundeten Metallbuchstaben am Gittertor lassen durchaus den Einfluss der Bauhaus-Typografie erahnen – wenn man darum weiß. Gestaltet hat sie der Häftling Franz Ehrlich, ein Bauhausschüler mit kommunistischen Überzeugungen, der deswegen von 1937 bis 1939 in Buchenwald inhaftiert war. Auch einen Generalbebauungsplan für das Lager musste Ehrlich entwerfen. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg als Todeskandidat in einem deutschen Strafbataillon, später in der DDR war er ein gefragter und nicht immer bequemer Stadtplaner, Architekt und Designer.
1952 baute Ehrlich für den DDR-Rundfunk ein großes Sendehaus
in Berlin, einen markanten Backsteinbau mit klaren Linien. Er kam fast ohne Reminiszenzen
an den Zuckerbäckerstil aus, den die SED zeitgleich den Baumeistern der
Stalinallee abforderte. Richard Paulick, ein ehemaliger Mitarbeiter des
Bauhausgründers Walter Gropius, gehörte zu den wendigen Architekten, die klassizistisch
dekorierten Wohnpaläste für Arbeiter entwarfen. In den Sechzigern baute Paulick
dann wieder brutal funktional – als Chefplaner der Plattenbausiedlung
Halle-Neustadt für 100.000 Menschen.
Eine Reise zu den Bauhaus-Orten in Deutschland führt durch
überraschende Kurven der Bau- und Kunstgeschichte. Oft sehen die Haltepunkte ganz
und gar nicht nach „Bauhausarchitektur“ im landläufigem Sinne aus. Die
Autobahnkirche Gelmeroda gehört dazu. Die ehemalige Dorfkirche inspirierte den Bauhauslehrer
Lyonel Feininger allein zu 13 Gemälden. Heute findet man sie weltweit in Museen
– und kann auf einem 28 Kilometer langen Feininger-Radweg die Lieblingsmotive
des passionierten Radfahrers in Thüringen abklappern.
Noch bis in den August hinein zeigen die Klassik-Stiftung
Weimar, die Stiftung Bauhaus Dessau und das Berliner Bauhaus-Archiv in London
eine große Retrospektive unter dem Titel „Bauhaus: Art als Life“. Seit ein paar
Jahren kooperieren die drei Institutionen fruchtbar miteinander, finanziell
unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes. Ein Ergebnis ist ein
vorbildliches Informations- und Navigationssystem, das neben einem Bauhaus-Reisebuch
auch eine Website mit einem digitalen Atlas und eine iPhone-App mit
Kartennavigation umfasst.
Website und App haben dem trägen Buchmedium uneinholbar voraus,
dass sie gratis zugänglich sind und ständig um aktuelle Informationen ergänzt
werden, außerdem liegt ihre Stärke in der Verlinkung von grafischen Elementen,
Bildern und (eher kurzen) Texten. Das haptisch und optisch sorgfältig
gestaltete Buch stellt rund 60 Orte ausführlich vor, bietet eine Menge
Hintergrund und vertiefende Exkurse – ideal vor allem für die Vor- und Nachbereitung
von Ortsbesichtigungen, während die App beim Auffinden der Objekte unschlagbare
Dienste leistet. Mit chronologischen Vor- und Rücksprüngen folgt das Buch einer
großen narrativer Linie, der von der Gründungsgeschichte in Weimar bis zum
Exodus führender Bauhäusler in der Nazizeit, zur internationalen Nachkriegsmoderne
und Musealisierung des Bauhauserbes reicht: eine originelle Gesamtschau am Leitfaden
der Topografie.
Das Bauhaus wollte die Künste zusammenführen, um die Zukunft
zu gestalten, diese Vision zog extrem verschiedene Künstlerpersönlichkeiten an.
Ihre Hinterlassenschaft ist so
reich, dass es dem vielköpfigen Projektteam und den drei Buchautoren Susanne
Knorr, Ingolf Kern und Christian Welzbacher nicht immer leicht gefallen ist, eine
ganz klare Linie der Darstellung zu finden. So wird überraschenderweise im
Berlin-Teil die Reichsforschungssiedlung in Haselhorst mit keinem Wort erwähnt:
Immerhin hatte Walter Gropius den Wettbewerb für diese größte Modellsiedlung um
1930 gewonnen, einen Bauabschnitt entwarf dann sein ehemaliger Mitarbeiter Fred
Forbat. Gropius´ Wettbewerbsentwurf deutete auf die von ihm nach dem Krieg
geplante Berliner Gropiusstadt voraus. Im Buch wird die Trabantenstadt nur
verlegen erwähnt, in den Karten der Bauhaus-Website und App fehlt sie völlig.
Dafür berücksichtigt die Website die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, die im
Buchregister fehlt. Ganz perfekt ist die nun vorliegende Vermessung der
Bauhaus-Topografie nicht, ein Augenöffner für Kulturreisende in Ostdeutschland
allemal.
Bauhaus-Reisebuch, hgg.
vom Bauhaus-Archiv / Berlin, Stiftung Bauhaus Dessau, Klassik Stiftung Weimar.
Dumont, Köln 2012, 308 Seiten, 19,95
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