Verarmt, grau, unruhig und lebenshungrig: So haben Zeitgenossen wie Brecht oder Joseph Roth das Nachkriegsberlin der frühen Zwanziger Jahre vielfach beschrieben. "Die Straße ist als Bild viel ärmer geworden. Zwischen den stehengebliebenen Dekorationen der reichen Zeiten bewegt sich ein im ganzen mißfarbenes Gewimmel ohne alle Üppigkeit an Gliedern, Wangen und Bekleidung", notierte Heinrich Mann 1921 in einem großen Essay über das republikanische Berlin. Im selben Jahre bricht der Arzt und Schriftsteller Adolf Heilborn zu seiner
Reise nach Berlin auf. Die feuilletonistischen Berlin-Streifzüge erscheinen ab 1921 in der
Berliner Morgenpost, dann 1925 als Buch. Heilborns
Reise nach Berlin führt nicht in die Fremde. Der Autor wurde 1873 in Berlin geboren, in einer noch recht überschaubaren Stadt, die sich bis zur Jahrhundertwende in eine Millionenmetropole verwandelte, mit einem Tempo, das wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Den Potsdamer Platz hat er noch erlebt als "einen unregelmässigen, hässlichen leeren Raum, gleichsam ein gähnendes Loch in der Straßenkreuzung, umrahmt von ebenso erbärmlichen Häusern", hinter dem von Berlin aus gesehen die "Jejend" begann: mit Blumengärten, Ausflugslokalen, Künstlervillen und dem alten Botanischen Garten auf dem Gelände des heutigen Kleistparks. Der 1838 verstorbene Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso ist dem Autor vierzig Jahre später noch ganz gegenwärtig: "Ein vollkommenes Idyll, naiv bei aller Wissenschaft, ein wahrer Garten ... voller Blumenduft und Vogelsang, und Chamisso saß hier in seiner Laube und bestimmte sein ´Heu´und sang sein rührend schönes
Frauenliebe und - leben. Was hat mich als Jüngling der Anblick dieser ´Chamissolaube´ nicht jedesmal ergriffen: Du lieber Gott, ich war verliebt, schrieb selber Verse und wollte zu alle dem Unglück auch dereinstens wie Chamisso Weltumsegler werden." In den frühen Zwanzigern ist ringsum Großstadt gewachsen, den Vorstadtcharakter kann man in unbebauten Lücken oder zwischen den Bauernhäusern des alten Dorfkerns von Schöneberg noch spüren. Der Potsdamer Platz aber mit seinem Verkehrsgewühl und der üppigen nächtlichen Illumination ist nun "das Herz des Groß-Berlin von heute und zu jeder Tageszeit ein unvergesslicher Eindruck."
Heilborn behandelt das moderne Berlin als eine Tatsache, die er weder kritisch durchleuchtet noch enthusiastisch feiert. Die oftmals polarisierende Kulturkritik des frühen 20. Jahrhunderts lässt er hinter sich. Statt dessen richtet er einen zärtlichen und zugleich immens geschichtskundigen Blick auf das älteste Berlin, das mitten in der Metropole ausharrt - heute ist davon nicht mehr viel übrig oder es ist Rekonstruktion wie das Nikolaiviertel und demnächst das Schloss. Im eleganten Plauderton verflicht Heilborn seine Spaziergangsschilderungen mit Kindheitserinnerungen, Anekdoten und historischen Informationen. Die
Reise nach Berlin erinnert schon sehr an Franz Hessels wenige Jahre später erschienenes Buch
Spazieren in Berlin, das allerdings viel umfangreicher ist und ein größeres Spektrum an Orten und Themen abdeckt. Beide Bücher korrigieren den Mythos vom Berlin der Zwanziger Jahre als permanent aufgekratzter Metropole. Sympathisch ist die Unaufgeregtheit, mit der Heilborn seine Vaterstadt in den Blick nimmt. Seine Nostalgie ist nicht unangenehm, weil sie sich frei hält von jeder Heroisierung der Vergangenheit oder Miesmacherei der Gegenwart. Die trüben Zeitumstände deutet Heilborn nur zart an, beim letzten Spaziergang über die Friedhöfe Berlins - zu Fontane, zu E. T. A. Hoffmann, zu Chamisso und den Grimms, die uns heute noch viel bedeuten, ganz zuletzt aber steht der Spaziergänger vor einer Tafel, die an fünf Weltkriegstote aus einer Familie erinnert: "Auch das ist Berliner Geschichte und deutsche Geschichte."
Adolf Heilborn
Die Reise nach Berlin
136 Seiten Hardcover mit Schutzumschlag
Format: 12,5 x 20,5 cm
ISBN: 978-3-942476-87-4
Verlag für Berlin und Brandenburg 2014
Preis: € 14,95
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