Vor gut zehn Jahren erschien im Ullstein-Verlag der "Ullsteinroman" des Schriftstellers und studierten Historikers Sten Nadolny: Er schildert den Aufstieg der jüdischen Verlegerfamilie bis zur Gleichschaltung und Übernahme ihres Konzerns durch die Nationalsozialisten. Der Name Stefan Großmann kommt in diesem dicken Buch ein einziges Mal vor. Der 1875 in Wien geborene Journalist, Romancier und Dramatiker arbeitete seit 1913 für die von Ullstein übernommene
Vossische Zeitung, war vorübergehend deren Feuilletonchef und nach dem Ersten Weltkrieg Mitbegründer der linksliberalen Zeitschrift
Tage-Buch. Großmann, ein gefürchteter Journalist und Kritiker des Medienbetriebs, hinterließ bei seinem Tod im Jahr 1935 einen unvollendeten Ullsteinroman, dessen Manuskript in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt wird.
Im Zentrum steht hier der "Bruderkrieg" zwischen den fünf Söhnen des Verlagsgründers Hermann Ullstein in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Sie teilten sich die Leitung des Unternehmens. Die Rivalität der Brüder und ihrer Söhne eskalierte, als Franz Ullstein sich in die Journalistin Rosie Gräfenberg verliebte und diese Einfluss auf die Verlagspolitik gewann. Falschmeldungen über ein zweifelhaftes Vorleben der jungen Frau wurden über die Medien lanciert. Für zusätzlichen Zoff sorgten unterschiedliche Meinungen in der Unternehmensleitung, wie der größte deutsche Medienkonzern auf die Wirtschaftskrise und den Rechtsruck in der deutschen Politik ab 1929 reagieren sollte. Schon vor der Machtübernahme der Nazis wurde allzu radikalen Redakteuren gekündigt, passte sich das Unternehmen der politischen Großwetterlage an, in der Hoffnung, Inserenten und Leser zu halten. Das Ideal der jüdischen Verlegerfamilie sei nunmehr ein "Völkischer Bobachter mit Genehmigung des Rabbinats", giftete Carl von Ossietzky im Januar 1932 in der
Weltbühne.
Ein praller Stoff für einen Familien-, Gesellschafts- und Wirtschaftskrimi! Großmann hat ihn als Schlüsselroman angelegt, aus den fünf Ullsteinbrüdern wurden die sechs Brüder Kronstein, aus Rosie Gräfenberg die kühle und elegante Evelyn Goldscheider, aus dem cholerischen Chefredakteur Georg Bernhard der Strippenzieher Klotz - etcetera. Nur ist es dem Autor leider nicht mehr vergönnt gewesen, den Weg vom zeitgeschichtlichen Stoff zur stimmigen Fiktion bis zum Ende zu gehen. Auf der Flucht vor den Nazis verarmt und schwer krank starb Großmann 1935 in Wien, ohne sein Manuskript in eine verlagsreife Form bringen zu können. So widersprechen sich etwa Angaben zu den Figuren, ihrem Alter, ihrer Augenfarbe, ihren Namen oder der Vorgeschichte. Manche Dialoge wirken konstruiert und hölzern, sicher wäre zu Lebzeiten des Autors daran unter der Aufsicht eines strengen Lektorats noch gefeilt worden. Der Erzählfluss mäandert und gerät immer mal wieder ins Stocken, man spürt, dass der Autor sich nicht ganz sicher war, wo er mit seiner Geschichte wirklich hinwollte.
In seinem Vorwort weist der Berliner Literaturwissenschaftler Erhard Schütz auf die Schwierigkeiten bei der Herausgabe eines derart zwar bis zum Ende durcherzählten, aber in sich nicht konsistent durchgeformten Romans hin. Herausgeber und Verlag haben einen Mittelweg gewählt, um ihn dennoch einem größeren Lesepublikum schmackhaft zu machen: Die Textvorlage wurde soweit geglättet, dass man das Buch nun bequem wie einen Kolportageroman durchlesen kann. Dabei stößt man aber immer wieder auf Widersprüche und Schwachstellen, die einen daran erinnern, dass dieses Buch in dieser Gestalt wohl kaum so erschienen wäre.
Gegen Ende des Romans schiebt sich immer mehr eine Liebesgeschichte in den Vordergrund: Der konservative Politiker Joachim von Schollwitz, der den Ullsteinkonzern als Staatskommissar an die Kandare nehmen soll, will ausgerechnet eine jüdische Sekretärin aus der Chefetage heiraten, während zur selben Zeit eine nationalsozialistische Betriebszelle das Unternehmen von innen unterwandert. Schließlich zieht sich das deutsch-jüdische Paar aufs Land zurück: "Es wird vielleicht ein paar Jahre dauern, bis uns das andere, das ewige Deutschland zurückrufen wird, dich und mich. Aber wir können warten." Wie gefährdet so ein Paar im Nazideutschland tatsächlich war, wie riskant die Strategie des Abwartens, konnte der Autor 1935 nicht wissen. Achtzig Jahre später versetzt der Roman
Wir können warten seine Leser in die Unsicherheit und Ungewissheit zurück, die kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Europa herrschte.
Stefan Großmann
Wir können warten oder Der Roman Ullstein
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Erhard Schütz
384 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-945256-02-2
22,99 Euro
Mehr zum Thema: Michael Bienert über den Untergang der
Vossischen Zeitung, des publizistischen Flaggschiffs des Ullstein-Konzerns.
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