Manche Berliner Siedlungen der
Weimarer Republik sind seit 2008 Weltkulturerbe, andere nicht – aber trotzdem
sehenswert. Ein Streifzug von Michael Bienert, erschienen am 25. August 2012 im Feuilleton der Stuttgarter Zeitung:
Wohnhauseingang in der Gartenstadt Atlantic, Heidebrinker Straße 8. Foto: Bienert |
Hat man dieses Wohnhaus bei der
Sanierung vergessen? Im Vorbeigehen wirkt es so. Das Haus Heidebrinker Straße
15 in der sanierten Gartenstadt Atlantic trägt noch den Originalputz aus den
legendären Zwanziger Jahren. Er ist nachgedunkelt, aber wenn die Sonne darauf
scheint, dann beginnen feine Körnchen darin plötzlich zu schillern und zu
blinkern. Die Fassade lebt! Dann bemerkt man weitere feine Details, die an den
Nachbarhäusern verloren gegangen sind: die Kasten-Doppelfenster und ihre expressionistischen
Einfassungen lassen die ungedämmte Außenwand viel plastischer wirken. Die
Rollläden sind aus Holz, nicht aus Kunststoff. Es fehlt die dicke
Wärmedämmschicht unter dem Putz.
Wenigstens ein Haus der Gartenstadt
Atlantic am S-Bahnhof Gesundbrunnen schaut noch genauso aus, wie der
deutsch-jüdische Architekt Rudolf Fränkel es entworfen hatte – dank einer
Finanzspritze von 200.000 Euro von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. An den übrigen rund 50 Häusern
der Siedlung hat der private Eigentümer das Erscheinungsbild nur vergröbert
wiederherstellen lassen, sonst wären die Mieten explodiert. Wichtiger war ihm,
die bunte Bevölkerungsmischung in dem zu Mauerzeiten stark herunter gekommenen
Kiez zu erhalten. Man sieht es mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Die Gartenstadt Atlantic ist eines
von vielen Wohnquartieren der Weimarer Republik, deren architektonische und
städtebauliche Qualität nach Jahrzehnten der Vernachlässigung in jüngster Zeit
wieder erlebbar geworden ist. Das Berlin der Roaring Twenties war ein Großlabor
des Wohnungsbaus.
In Stuttgart erinnert vor allem die Weißenhofsiedlung von
1927 an das große Projekt der Zwischenkriegszeit, die drängende Wohnungsnot
durch modernes, rationelles und zugleich bezahlbares Bauen zu überwinden. Im
selben Jahr beauftragte der Reichsarbeitsminister die
„Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen“
mit der systematischen Lösungssuche. 1928 schrieb sie einen Wettbewerb für
Wohnungsbau auf einem 45 Hektar großen Gelände in Berlin-Haselhorst aus, den
der Bauhausgründer Walter Gropius gewann.
Nach Plänen von Paul Mebes, Fred
Forbat und sechs weiteren Architekten entstand bis 1934 auf diesem
Experimentierfeld ein ausdifferenziertes Wohngebiet für rund 13.000 Menschen
mit niedrigem Einkommen. Diese „Reichsforschungssiedlung“ saniert die Wohnungsbaugesellschaft
GEWOBAG für 140 Millionen Euro, nach zehn Jahren Laufzeit sollen die
Bauarbeiten 2013 abgeschlossen werden. Grundlage ist ein Denkmalpflegeplan, der
die Rekonstruktion tausender kleiner Details wie Lichtschalter, Türfarben und
Lichtkästen für die Hausnummern vorschreibt, während gleichzeitiger die
Wohnungen an heutige Lebensgewohnheiten angepasst werden.
Dabei gehören weder die
Reichsforschungssiedlung noch die Gartenstadt Atlantic zu den sechs Siedlungen
der Moderne, die auf Antrag des Senats seit 2008 in die Welterbeliste der
UNESCO eingetragen sind. Selbst die berühmte Onkel-Tom-Siedlung von Bruno Taut
fehlte 2006 auf der Antragsliste: Der üble Zustand vieler Häuser dort, so die
Befürchtung damals, hätte das ganze Vorhaben scheitern lassen können.
An den sechs Welterbesiedlungen wird
seither unter strengen Auflagen weiter gebaut. Insbesondere bei den Grün- und
Gartenflächen innerhalb der Siedlungen ist noch viel zu reparieren. Außerdem
schreibt die UNESCO eine schützende Pufferzone um die Welterbestätten vor. So
wurde neben den rot-weißen Backsteinhäusern von Bruno Taut an der Bristolstraße
in Wedding der historische Schillerpark auf Vordermann gebracht und in einem
ehemaligen Klohäuschen eine Infostation eingerichtet. Auch in der
Hufeisensiedlung in Britz und der Ringsiedlung Siemensstadt gibt es inzwischen
Anlaufpunkte für Architekturtouristen, die leider noch nicht täglich geöffnet
sind. In naher Zukunft soll sie ein einheitliches Ausschilderungssystem die
Besucher durch die Siedlungen lenken – und die Bewohner vor allzu zudringlichen
Blicken schützen.
In der Hufeisensiedlung haben zwei
Liebhaber ein Häuschen inwenig denkmalgerecht saniert und im Stil der
Erbauungszeit möbliert. Dieses „Taute Heim“ können Architekturtouristen sogar
mieten (www.tautes-heim.de). Der Welterbestatus für den Berliner Siedlungsbau
der Weimarer Republik birgt ein großes touristisches Potential, das – zum Glück
– noch nicht perfekt ausgeschöpft ist. Die neuen Sehenswürdigkeiten erster
Klasse werden bislang nicht von Schaulustigen überrannt. Neuerlich in kräftigen
Farben leuchtend, mit ein paar Baustellen mittendrin atmen diese städtischen
Räume wieder viel vom republikanischen Optimismus ihrer Entstehungszeit.
Der Aufmerksamkeitsschub, den die
Aufnahme ins Weltkulturerbe den Siedlungen der Moderne gebracht hat, fordert
zur Nachahmung heraus. Beim Berliner Denkmaltag im April diskutierten Experten
darüber, ob es möglich sei, die qualitativ hochwertigen Bauten der frühen
Berliner Elektrizitätsversorgung zum Welterbe erklären zu lassen. Eine
Bürgerinitiative strebt dasselbe für das Hansaviertel und die Stalinallee an,
zwei Vorzeigeprojekte der Nachkriegszeit in West und Ost-Berlin. Die größten
Chancen hat derzeit der Jüdische Friedhof in Weissensee: Das 42 Hektar große
Gelände mit 115.000 Grabstellen soll nach einem Beschluss des Senats vom Juli in
einen „Serienantrag“ aufgenommen werden, mit dem auf einen Schlag mehrere
jüdische Friedhöfe in Europa zum Weltkulturerbe erklärt werden könnten.
Besucherinformationen findet man
unter www.welterbesiedlungen-berlin.de und www.juedische-friedhoefe-berlin.de
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