Als Abschiebegewahrsam diente ein kleines Hotel, in dem Walter Benjamin 31 Valiumtabletten schluckte und einen Tag später starb. Der 48-jährige Flüchtling fühlte sich weiteren Strapazen nicht gewachsen. Außerdem glaubte er seine Ledertasche in Sicherheit: Sie barg ein Manuskript, dessen Wert Benjamin höher schätzte als das eigene Leben. Es ist seither verschollen.
Die Augen- und Ohrenzeugenberichte in dem von Erdmut Wizisla, dem Leiter des Berliner Walter-Benjamin-Archivs, herausgegebenen Band mit persönlichen Erinnerungen an den Schriftsteller, Literaturkritiker und Philosophen, führen ganz nah an seinen Flüchtlingsalltag heran – stammen sie doch zum größten Teil von Freunden und Bekannten, die ebenfalls Deutschland verlassen mussten. Sie erlebten die Nöte des Exils als Alltag, und entsprechend lapidar erzählten sie davon, wie Soma Morgenstern, der vor 1933 mit Siegfried Kracauer und Walter Benjamin zum Mitarbeiterkreis der Frankfurter Zeitung zählte:
„In Marseille gingen wir eines Tages zusammen zur Préfecture, um wieder einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass unsere Hoffnungen auf ein Ausreisevisum vergeblich waren. Auf dem Wege, vor einem Café, saß unserer Freund S. Kracauer, eifrig schreibend. Wir begrüßten ihn, und was war das ständige Thema in Marseille? Voila. Spanisches Visum, Portugiesisches Visum. Ausreisevisum. Jeder von uns hatte schon das und jenes, und zwar mehrmals, gehabt. Aber eines überlebte das andere, alles in Erwartung eines französischen Ausreisevisums, das nicht kam. Kracauer war gerade das portugiesische Visum ausgegangen, mir das spanische. Ehe wir weitergingen, fragte ich Kracauer: ‚Was wird aus uns werden, Krac‘? Darauf er, ohne nachzudenken, erstaunlich schnell und apodiktisch: ‚Soma, wir werden uns hier alle umbringen müssen.‘ Um uns zu zeigen, dass er noch Wichtiges zu tun hatte, wandte er sich wieder seinen Papieren zu und schrieb schnell weiter. Vor dem Eingang der Préfecture blieb W. B. stehen und sagte: ‚Was mit uns geschehn wird, ist nicht so leicht vorauszusehen. Aber eins weiß ich sicher: wer sich sicherlich nicht umbringen wird, ist unser Freund Kracauer. Er muss ja noch seine Encyclopaedie des Films zu Ende schreiben. Und dazu gehört ein langes Leben.‘"
Benjamin sollte, was Kracauer betraf, recht behalten. Ihm selbst blieb ein langes Leben versagt, um alle seine Gedanken und Pläne zu Papier zu bringen. Freunde und Weggefährten wie Theodor W. Adorno und Gershom Scholem haben nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges große Mühe darauf verwandt, wenigstens Benjamins Nachleben zu retten, Manuskripte und Erinnerungen zu sichern, seine Schriften zu veröffentlichen. Posthum entfaltete Benjamin vor allem als Literaturkritiker und Kulturwissenschaftler eine Wirkung ohnegleichen. Wer den Benjamin-Kult innerhalb der Germanistik miterlebt hat, wird es zu schätzen wissen, wie Herausgeber Erdmut Wizisla den Mythos Benjamin vom Kopf auf die Füße stellt. Entschieden setzt er an den Anfang seiner Anthologie die Erinnerungen von Herbert W. Belmore, eines Mitschülers, der kaum ein gutes Haar an Benjamin lässt. Hochbegabt und egozentrisch, lebensuntüchtig und weltfremd, ein gescheitertes Genie, das sich selbst im Wege stand, so schildert ihn Belmore, und auch wenn man dem Urteil nicht folgen mag, kann man doch Wesenszüge Benjamins in dieser Charakteristik wiedererkennen. „Benjamins Tragödie bestand darin, dass er es durch irgendeinen Charakterfehler weder schaffte, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, noch seine Talente zu nutzen ... Sein starker Intellekt produzierte nie ein Werk, zu dem seine Größe fähig gewesen wäre."
Gerade diese Eigenart aber machte für andere Freunde den besonderen Charme und die Faszination an Benjamins Persönlichkeit aus. Seine Gedankengänge waren schlicht zu originell für eine akademische Karriere, sie überforderten die Sachwalter des zeitgenössischen Wissenschaftsbetriebs. So wurde Benjamins Habilitationsschrift von der Frankfurter Universität abgelehnt. Inspirierend wirkte Benjamin auf intellektuelle Außenseiter und Querköpfe, Schreibaufträge bekam er in den Jahren der Weimarer Republik von Feuilletonredakteuren, aus dem jungen Medium Rundfunk und in der Exilzeit von dem aus Deutschland ausgewanderten „Institut für Sozialforschung", von Adorno und Horkheimer.
Die Anthologie „Begegnungen mit Benjamin" stellt den Leser mitten hinein in ein Geflecht enger persönlicher Beziehungen, Freundschaften, und Liebschaften, in dem Benjamin mal als misstrauisch und eigenbrötlerisch, dann wieder als höflich, zugewandt, zartsinnig und humorvoll wahrgenommen wurde. Wunderbare Schlaglichter sind da zu lesen, etwa aus Tagebuchaufzeichnungen des Freundes Franz Hessel. Eindrücke von einer Berliner Party im Jahr 1929: „Im Wohnzimmer Grammophon. Das dunkle Mädchen, das Valentine heißt, Java genannt wird und aus dem Kaukasus stammt. Gusto. Titine rot und resch. Ola umbuhlt und fern. Benjamin tanzt stelzbeinig mit der professionellen Dorothee, deren Grazie mir unangenehm." Oder von einem intellektuellen Streitgespräch zwischen einem Philosophen, Musiker und Bildenden Künstler: „Abends bei Benjamin Kunstdisput zwischen gewaltig raumverdrängendem, herumdisponierenden Klemperer und schmal spitzem Moholoy." Wunderbar auch die Anekdote von Max Rychner, wie Benjamin angesichts seiner eigenen, mit Geldscheinen prall gefüllten Brieftasche in eine Art Trancezustand geriet und daran erinnert werden musste, dass er eigentlich eine Restaurantrechnung bezahlen wollte.
Für Adorno war Benjamin ein „Zauberer", sein Tod habe „die Philosophie um das Beste gebracht, was sie überhaupt hätte erhoffen können." Mit solchen Superlativen ist schwer umzugehen. Kein Zweifel, Benjamin war ein absolut außergewöhnlicher Mensch. Aber eben auch ein Intellektueller, der Irrtümer riskierte, der zum Widerspruch herausforderte und gerade nicht das kopfnickende Einverständnis suchte. Und der sich deshalb über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg mit Brecht anfreunden konnte, dem der Herausgeber Wizisla das letzte Wort in seinem schönen Buch lässt. 1941 schrieb Brecht im Exil nach der Lektüre von Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte":"Man denkt mit Schrecken daran, wie klein die Anzahl derer ist, die bereit sind, so etwas wenigstens misszuverstehen"
Die Gefahr des Missverstehens ist heute größer denn je, denn eine literarische Bildung, wie sie Benjamin bei seinen Lesern voraussetzte, ist selten geworden - und die Erinnerung an die historisch-politischen Zeitumstände, gegen die Benjamin angeschrieben hat, verblasst. Sie ist aber ein Schlüssel zu vielem, was uns an Benjamins Gedankengängen willkürlich, unverständlich oder rätselhaft erscheint. Aus den konkreten Entstehungsbedingungen der Texte wird klarer, was daran zeit-, gesellschafts- und situationsbedingt ist und was darüber hinausweist. Benjamin schwebte eine Geschichtsschreibung vor, etwa im Passagen-Werk, die genau dieses Unterscheidungsvermögen an den konkreten Phänomenen beweist. Die „Begegnungen mit Benjamin" stellen den Philosophen nicht auf einen Sockel, sondern helfen, seine faszinierende historische Erscheinung mit der richtigen Mischung aus Respekt und kritischer Neugier zu befragen.
Begegnungen mit Benjamin
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Erdmut Wizisla
Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015
320 Seiten, ISBN 978-3-95797-009-1, 24,90 Euro
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Erdmut Wizisla
Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015
320 Seiten, ISBN 978-3-95797-009-1, 24,90 Euro
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