Von Elke Linda Buchholz - Beim Aufwachen fällt der Blick auf die blauen Wände des Schlafzimmers.
Was für ein Blau! Der Kalender auf dem Schreibtisch zeigt den 21. Januar. Das
Datum stimmt. Nur die Jahreszahl irritiert: 1931. Wie es damals wohl hier war,
als die Erstmieter ihr neues Domizil bezogen? Einfache Leute werden es gewesen
sein, kleine Angestellte oder Beamten, vielleicht mit Kindern. Ob ihnen das
Blau im Schlafzimmer gefiel? Intensiv, fast leuchtend ist es einfach da.
Überhaupt nicht kühl, eher zärtlich. Eine Farbe voller Anmut, Klarheit und
Eigensinn. So wie das ganze kleine Haus, das vom flachen Pultdach bis zur
Originaltürklinke denkmalgerecht wiederhergestellt in der Britzer
Hufeisensiedlung auf Feriengäste wartet. Wer sich hier einquartiert, findet
sich unversehens auf einer Reise in die späten Zwanziger und frühen Dreißiger
Jahre: in die Ära des Architekten Bruno Taut, der mit seinen Berliner Reformsiedlungen
für Kleinverdiener tausende von Wohneinheiten entwarf. Heute stehen sie auf der
UNESCO-Welterbeliste.
Schon gestern Abend bei der Anreise, als man durch den eisigen
Ostwind von der U-Bahn herstapfte und das heimelig warme Häuschen betrat, avancierte
der taubenblaue, taut-blaue Schlafraum im Obergeschoss sogleich zum
Lieblingszimmer. Immer wieder zieht es einen während des Aufenthalts in dieses
Blau zurück, für ein minutenlanges Farbbad. Das warme Braunrot des Kachelofens
und der Fußbodendielen setzt einen kräftigen Gegenakzent dazu. Ein Stahlrohrsessel
nebst Beistelltisch genießt seinen elegant-stylischen Auftritt auf dieser
Farbbühne. Auch Wilhelm Wagenfelds berühmte Bauhaus-Lampe darf nicht fehlen. Aber
bekannte Design-Ikonen sind hier in der Unterzahl.
Das "Taute Heim", wie die Vermieter Ben Buschfeld
und Katrin Lesser ihr Schmuckstück genannt haben, ist kein musealer Showroom
für ultramoderne Klassiker. Sie haben überlegt, wie es hier wirklich ausgesehen
haben könnte - damals. Denn Bruno Taut war kein Radikalverfechter
modernistischer Formgebung, sondern Realist ohne ideologische Scheuklappen.
1924 schrieb er über den Frust moderner Architekten: "Wenn sie die Leute einziehen sahen mit ihren Massen an Möbeln,
mit dem unendlichen Krimskrams und Gerümpel, so mussten sie resignieren und
sich schließlich damit zufrieden geben, dass ihre Bauten und Siedelungen
wenigstens außen ein gutes Gesicht hatten." Dieser Stoßseufzer könnte
auch heutigen Denkmalpflegern von den Lippen kommen. In der 1925-30 erbauten Hufeisensiedlung
sind alle Fassaden denkmalgerecht instandgesetzt. Die mehrgeschossige "Rote
Front" an der Ostflanke der Siedlung strahlt in Originaltönen. Rhythmisch
wechseln gelbe, weiße, rote und blaue Fassaden in den niedrigeren Häuserzeilen,
die das eigentliche "Hufeisen" im Zentrum der Siedlung umgeben. Aber innerhalb
seiner eigenen vier Wände richtet sich jeder Bewohner nach Gutdünken ein, ob Neobarock,
Ikea oder Country-Style.
Im Tauten Heim hat die Vision des Architekten vom modernen
Leben zwei leidenschaftliche Perfektionisten gefunden. Tausende Arbeitsstunden und
ein Vermögen haben sie in einen verrückten Traum investiert. Als die
Gartendenkmalpflegerin und der Graphikdesigner 2010 das würfelförmige Haus erstmals
betraten, das am einer Reihenhauszeile so aufmüpfig aus der Bauflucht
hervorspringt, war ihr Eroberergeist angestachelt. Die beiden leben selbst seit
15 Jahren in einem anderen Haus der Hufeisensiedlung, nur 100 Meter entfernt,
und sind aktive Mitstreiter des Fördervereins. Sie blättern Fotos vom damaligen
Zustand des heutigen Feriendomizils auf. Braune Siebziger Jahre-Fliesen im Bad,
großblumige Tapete im Wohnzimmer, Billigspüle in der Küche und Schimmel hinter
der Wanne. Ein hässliches Entlein. "Da muss man natürlich hindurchsehen!"
sagt Katrin Lesser: "Die Originalsubstanz! Alle Fenstergriffe, die alten
Kachelöfen, Türen, so viel war nirgends sonst erhalten. Ein Horror, wenn ein
anderer Hauskäufer das alles herausgerissen hätte..." Über Nacht stand der
Entschluss fest, dieses Kleinod zu retten. Die Idee eines Museums erwies sich
als nicht realisierbar. Nun soll die Vermietung als Ferienhaus wenigstens einen
Teil der Kosten wieder einspielen. Die Nachbarn verfolgen das Ausnahmeprojekt mit
Wohlwollen. Es ist das einzige Ferienhaus weit und breit - und zieht eine ganz
spezielle Klientel an. Die ersten Architekturfans haben sich bereits begeistert
im Gästebuch verewigt. Eine "alte Britzerin" fühlte sich sechs
Jahrzehnte zurück in ihre Jugend versetzt. Eine Kunsthistorikerin bezog hier Quartier,
um einen Vortrag über Zwanziger Jahre-Architektur vorzubereiten. Das renommierte
Iconic Houses Network im Internet verzeichnet
das Taute Heim neben Architekturikonen wie der spektakulären Villa "Fallingwater"
von Frank Lloyd Wright.
Es gibt sich von außen bescheiden, umgeben von zierlichen
Obstbäumen und Wildrosenhecken. Nach akribischen Quellenrecherchen hat Katrin
Lesser auch dem Garten sein Gesicht zurückgegeben. Der Apfelbaum vor der
Terrasse passte streng genommen nicht ins originale Bild, durfte aber trotzdem
bleiben. Er revanchiert sich mit köstlichen Früchten. Aus der Ernte des letzten
Herbstes haben die Besitzer Apfelmarmelade gekocht. Ein Gläschen davon erwartet
die Gäste auf dem Frühstückstisch. Tautes Heim mit allen Sinnen. Aber jetzt
muss ein Kaffee her! Man schaut sich in der hellen Küche um. Blaues Geschirr
steht in der Anrichte bereit, beides stammt vom Trödler und darf seine Nutzungsspuren
zeigen. Die Milch ist über Nacht hinter den Holzschiebetüren des "Naturkühlschranks"
unterm Fenster frisch geblieben. Dieser funktioniert durch die Außenkälte so
gut, dass das moderne Elektrokühlgerät getrost ausgeschaltet bleiben kann. Aller
Komfort der Gegenwart, vom Toaster bis zur Spülmaschine, verbirgt sich in
stilecht nachgebauten Küchenmöbeln und im erhaltenen Speisewandschrank. Die
Mikrowelle anzuschmeißen käme einem vor wie ein Sakrileg. Zaghaft dreht man an
den alten Knöpfen des historischen E-Herds und rückt einen Emailtopf auf die
Platte. Es funktioniert! Ein Handwerker hat den Dinosaurier aus der Frühzeit
der elektrifizierten Hauswirtschaft aufgearbeitet. Auch der braunrote
Steinholzfußboden in der Küche erforderte Könnerschaft: Einer der letzten
Spezialisten seines Fachs reiste eigens aus Schwaben an und brachte seine
Rohstoffe gleich säckeweise mit. Sägemehl, Zement, Eisenoxidpigmente und
diverse Salze wurden nach Geheimrezeptur vor Ort verarbeitet.
Als Vorbild für die Kücheneinrichtung diente eine Musterküche,
die Bruno Taut für seine Zehlendorfer "Onkel Tom"-Siedlung entworfen
hatte. Über die Interieurs der Hufeisensiedlung selbst weiß man leider wenig. Alte
Fotos, Grundrisse und Zeitschriftenjahrgänge wurden zum Kompass einer
denkmalpflegerischen Gratwanderung. Das große Doppelbett mit der
Einbauschrankwand entstand als Neuentwurf nach einem patenten Klappbett von
1929. Die moderne Gastherme im Keller wärmt stilechte Heizkörper, ähnlich
denen, die Taut in seinem eigenen Haus im Brandenburgischen Dahlewitz
installierte. Die Bewohner der Hufeisensiedlung mussten ursprünglich mit
Kohleöfen vorliebnehmen. Zwischen Authentizität und zeitgemäßem Komfort trifft
das Ambiente einen ganz eigenen Ton: stilsicher und bis ins Kleinste
durchdacht.
Tausend Entscheidungen waren zu treffen. Bruno Taut mochte
keine Vorhänge. Aber hängten die einstigen Bewohner nicht trotzdem welche auf,
um sich vor neugierigen Blicken zu schützen? Die neu genähten, grauweißen Küchenvorhänge
nehmen die horizontale Farbgliederung der Wände auf und passen sich quasi in Chamäleon-Manier
ihrem Umfeld an. In allen Räumen stößt man auf rechteckige
"Farbfenster" mit freigelegten Partien der originalen Wandanstriche.
Eine Restauratorin hat Schicht für Schicht millimeterdünn mit dem Skalpell abgehoben,
um die Originalton dingfest zu machen. Noch nie zuvor war in einem Interieur
der Hufeisensiedlung eine wissenschaftliche Farbanalyse gemacht worden! Selbst Architekturhistoriker
überraschten die Befunde. Das ehemalige Kinderzimmer kombiniert fröhliches Gelb
mit einem kobaltblauen Kachelofen. Das Wohnzimmer setzt mit gedeckten Grüntönen
auf gediegene Harmonie.
Erschöpft von der Erkundung der Winkel, Schubladen und
Schränke des Hauses, die immer neue Überraschungen bergen, fällt man auf das
weiche schilfgrüne Sofa. Jetzt ein bisschen Musik... Da steht ja ein Radio. Den
wuchtigen bakelit-braunen Kasten, Baujahr 1932, ans Laufen zu bringen, ist ein
Abenteuer für sich. Zunächst lässt er nichts hören als minutenlanges Brummen. Als
die alten Röhren warmgelaufen sind, dringen knarzend und quietschend erste Töne
durch den Äther. Wer es lieber störungsfrei mag, stöpselt seinen IPod an eine
rückseitig versteckte Buchse und der Rundfunkveteran tut als Lautsprecher seinen
Dienst. Im Kachelofen knistert das Feuer. Hier lässt es sich aushalten.
"Tautes Heim - Glück allein". Den Hausspruch hat
Katrin Lesser selbstgehäkelt an die Wand gehängt. Soviel liebevolle Ironie muss
der Architekt aushalten, der Gehäkeltes hasste. Den Besuch eines
"verwöhnten Großstädters" in einem modern eingerichteten Heim stellte
er sich vor "wie ein erfrischendes Bad". Da hatte er recht.
Eine Nacht kostet ab
150 €, Mindestaufenthalt 3 Nächte. Informationen unter
Zum Tag des Offenen
Denkmals steht das Haus zur Besichtigung offen.
Erstdruck im TAGESSPIEGEL vom 10. Februar 2013. Wir veröffentlichen hier die abweichende Manuskriptfassung mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen